Category: Culture

  • Der Suizid im Liberalismus

    Der Suizid im Liberalismus

    “Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien hat – kommt später. Das sind Spielereien; erst muss man antworten.”

    (Albert Camus, Le Mythe de Sisyphe, 1942, dt. Übersetzung)

    Nicht erst seit Albert Camus ist der Suizid ein kontroverses Thema in der Philosophie. Der Liberalimus setzt sich als politische Philosophie lediglich indirekt mit der Thematik auseinander, da er weder Verbote noch Gebote ausspricht, sondern den Suizid als Teil der Menschenwürde auffasst.

    Griechische Philosophie und Stoa

    Eine grundsätzlich ablehnende Haltung gebenüber dem Suizid finden wir bei Sokrates, der in Platons “Phaidon” die Entscheidung über Leben und Tod den Göttern überlässt. Aristoteles schloss sich dieser Meinung an.

    Demgegenüber finden wir insbesondere bei den Stoikern eine positive Haltung gegenüber dem Suizid. Für den Stoiker ist nicht entscheidend, dass man lebt, sondern wie man lebt. Namentlich schrieb Seneca in den Briefen an Lucilius:

    „Finden wirst du auch Lehrer der Philosophie, die bestreiten, man dürfe Gewalt antun dem eigenen Leben, und es für Gotteslästerung erklären, selbst sein eigener Mörder zu werden […] Wer das sagt, sieht nicht, dass er den Weg zur Freiheit verschließt. Nichts besseres hat uns das ewige Gesetz geleistet, als dass es uns einen einzigen Eingang in das Leben gegeben, Ausgänge viele. Ich soll warten auf einer Krankheit Grausamkeit oder eines Menschen, obwohl ich in der Lage bin, mitten durch die Qualen ins Freie zu gehen und Widerwärtiges beiseite zu stoßen? Das ist das einzige, weswegen wir über das Leben nicht klagen können: niemanden hält es.“

    (Epistulae Morales ad Lucilium 70.14-15).

    Christentum

    Diese klaren Worte wurden jedoch von der Kirche abgelehnt. Im ersten Buch seines Werks “De Civitate Dei” (Gottesstaat) betonte der Kirchenvater Augustinus im 5. Jahrhundert n. Chr., dass der Dekalog (zehn Gebote) nicht nur die Fremdtötung sondern auch den Suizid mitumfasse:

    “Allerdings nämlich ist, wenn es nicht einmal gestattet ist, aus eigener Vollmacht einen Übeltäter zu töten, es sei denn, daß ein Gesetz die Befugnis gibt, ihn zu töten, natürlich auch der Selbstmörder ein Mörder, und er lädt durch den Selbstmord umso größere Schuld auf sich, je weniger er schuld ist an der Ursache, die ihn zum Selbstmord treibt.”

    (Buch 1, 17)

    Anders als bei Seneca soll es für den gläubigen Christen keinen eigenständigen Ausweg aus dem Leben geben dürfen. Das Leben erhält damit einen Eigenwert, über den nur Gott bestimmen kann. Er gibt Leben, und er alleine entscheidet, wann er es zurück nimmt.

    Im Unterschied zu den fernöstlichen Weltanschauungen (Hinduismus, Konfuzianismus und teils Buddhismus) folgen alle grossen abrahamitischen Religionen dieser Prämisse.

    Humanismus und Aufklärung

    Der Liberalismus findet nicht nur in den griechischen und römischen Ideen seine Vorläufer, sondern insbesondere auch bei den Denkern des Humanismus. Michel de Montaigne hat sich fast wortwörtlich der Meinung Senecas angeschlossen, als er in seinen Essais (1580) schrieb:

    „[…] man sagt, […] das gnädigste Geschenk der Natur, das uns jeden Grund zur Klage über unser Los nehme, bestehe darin, dass sie uns den Schlüssel zum Weg ins Freie überlassen habe. Sie hat nur einen Eingang ins Leben vorgesehen, aber hunderttausend Ausgänge.“

    (Essais 2,3)

    In Weiterentwicklung der antiken Tradition (insb. der “humanitas” in Ciceros Werk) betonte der Humanismus die Würde des Individuums aufgrund seiner Natur und Vernunft.

    Die Entscheidungsfreiheit wurde sodann als wesentlicher Bestandteil der Menschenwürde betrachtet. In den Worten Samuel von Pufendorfs (1672):

    „Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt.“

    (De iure naturae et gentium, 2. Buch, 1. Kapitel, § 5)

    Ferner beschäftigte sich David Hume in seiner Schrift “Of suicide” (1777) ausführlich mit der Thematik. Dabei kam Hume zum Schluss, dass moralische Verurteilungen fehl am Platz seien. Der Suizid sei weder moralisch noch unmoralisch, sondern ein tröstender Notausgang für den Einzelnen, “[which] would effectually free him from all danger of misery”.

    Dem entgegnete Immanuel Kant, dass der Suizid dem Grundgesetz der praktischen Vernunft widerspreche, wonach der Mensch durch sein Handeln sich selbst zu bestätigen habe. Der Mensch sei eben Zweck, und niemals Mittel. Indem der Suizident den Suizid wähle, stelle er im Widerspruch zu seiner Vernunft sein Menschsein in Frage. Für Kant ist die “Selbstentleibung” darum ein Verbrechen, ja Mord (Die Metaphysik der Sitten, § 6, 1797). Weil bei Kant das Prinzip der Selbsterhaltung bereits in der Prämisse steckt, ist die Entscheidungsfreiheit im Suizid lediglich eine vermeintliche.

    Suizid im Nationalsozialismus

    In einer Gesellschaft, in welcher das öffentliche Interesse mit Zwang vor das Eigeninteresse gestellt wird, kann der sebstbestimmte Tod zu einem politischen Akt werden: Wenigstens die Entscheidung über ihren Tod wollten viele Juden und Personen verfolgter Minderheiten nicht den Nationalsozialisten überlassen. So waren ihre Handlungen Ausdruck des Widestands gegen eine Ordnung, welche das Leben ganz grundsätzlich nicht wertschätzte.

    Es ist darum nicht erstaunlich, dass auch Deutsche, die den Suizid wählten, als minderwertige Menschen angesehen wurden. Eine solche Handlung wurde zudem als Pflichtverletzung gegenüber dem Staat betrachtet. Ironischerweise wählte letztendlich auch Adolf Hitler angesichts der Ausweglosigkeit des Krieges den Freitod. Für seine Anhänger wurde sein Suizid zum hochstilisierten Beweis des Märtyrertums.

    Straffreiheit und Toleranz in der modernen liberalen Ordnung

    Mit der Anerkennung der Glaubensfreiheit in den demokratischen Verfassungen des Westens wurde der Suizid von seiner metaphysischen Ballast befreit: Nunmehr bestimmte der Staat über die dessen Legalität. Relativ bald etablierte sich die Einsicht, dass der Suizid grundsätzlich straffrei sein sollte (in Preussen bspw. 1851), wobei sich die Diskussionen allerdings in vielen Staaten bis heute um das zulässige Mass der Beihilfe zum Suizid drehen.

    Der Liberalismus als politische Philosophie kann grundsätzlich nichts über das Psychologische und Seelische aussagen. In Ludwig von Mises’ Worten (1927):

    “Nicht aus Geringschätzung der seelischen Güter richtet der Liberalismus sein Augenmerk ausschliesslich auf das Materielle, sondern weil er der Überzeugung ist, daß das Höchste und Tiefste im Menschen durch äussere Regelung nicht berührt werden können. Er sucht nur äusseren Wohlstand zu schaffen, weil er weiß, daß der innere, der seelische Reichtum dem Menschen nicht von außen kommen kann, sondern nur aus der eigenen Brust. Er will nichts anderes schaffen als die äußeren Vorbedingungen für die Entfaltung des inneren Lebens.”

    (Liberalismus, 4)

    Der klassische Liberalismus fordert indes Toleranz. Er fordert Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andershandelnden. Die liberale Haltung besteht also im respektvollen Umgang mit einem zumeist psychologischen Phänomen, das in der Regel für Aussenstehende nur schwer oder gar nicht fassbar ist.

    Der Suizid soll als Realisierung des letzten Willens offenstehen. Wo auch immer ein Mensch nach reiflicher Überlegung zur Überzeugung gelangt, dass er diesen Weg wählen möchte, soll ihm dieses natürliche Recht nicht verwehrt werden können – weder von einer religiösen Gruppierung noch vom Staat. Der Mensch – in Anlehnung an Hume – schuldet der Gemeinschaft nichts; sein freier Wille soll nicht durch Nützlichkeitserwägungen eingeschränkt werden können.

    Für einen Liberalen muss sich eine solche Haltung bereits aus der Verfügungshoheit über den eigenen Körper ergeben. Ein Verbot würde nämlich immer auch die (freilich rein hypothetische) vollständige Fremdkontrolle des eigenen Körpers bedeuten.

    Anders als Kant meinte, stellt der Suizid auch keine moralische Selbstverneinung dar, sondern die Verwirklichung des freien letzten Willens. Nur wenn dieser freie Wille eingeschränkt ist, im Sinne Ludwig Wittgensteins eine „Überrumpelung“ (Kontrollverlust) vorliegt, kann nicht von einer „reiflich überlegten“ Entscheidung gesprochen werden.

    Der Liberalismus setzt dem selbstgewählten Tod allerdings dort eine Schranke, wo andere Menschen zu Schaden kommen könnten. Keine Toleranz erhält darum der Selbstmordattentäter, der sich aufgrund seiner intoleranten Ideologie tötet. Problematisch (aber verständlich) ist die Frage, ob das Vorliegen einer Verantwortung des Suizidenten für andere Menschen, wie etwa seine Kinder, die Suizidhandlung als verwerflich erscheinen lässt.

    Die Toleranz gegenüber der Entscheidungsfreiheit und damit der Würde des Menschen ist die Stärke des Liberalismus. Diese Toleranz ist nicht bedingt oder abhängig vom Willen einer Autorität, und sie macht insbesondere vor dem Tod nicht halt.

     

    Quellen:

  • The Right to Be Let Alone in a World of Cultural Diversity

    The Right to Be Let Alone in a World of Cultural Diversity

    The right to be let alone, as Justice Louis Brandeis famously put it in “Olmstead v. United States”, is commonly associated with the right to privacy in the Fourth Amendment. The constitutional “[…] right of the people to be secure in their persons, houses, papers, and effects, against unreasonable searches and seizures […]” critically separates the spheres of life and wards off many dangers from the government. However, in a society so culturally diverse as ours, the right to be let alone takes on much greater significance than just separating the spheres between the individual and the state.

    Bridges are not built overnight

    A recent poll shows that Americans are divided on the role of culture in their society. Coming from Europe, the U.S. is undoubtedly a much more culturally diverse nation than most European countries, if not all. Unlike Switzerland, for example, Americans cannot rely on ethnic kinship for a shared identity. The U.S. is truly a nation of immigrants. The more surprising are the results of that poll showing that conservative and social-democratic opinions diverge in terms of fundamental cultural values.

    If we accept the fact that culture matters, we also have to concede that foreign culture should have a place in our society.

    Culture is a delicate issue. F.A. Hayek argued that culture matters and that it shouldn’t be denied in the political processes of a constitutional democracy, unless one wants to question the stability of a society. However, culture isn’t a rigid phenomenon either. The basic values of a society can change, and quite obviously, have done so significantly. Slavery, for example, once a shared value among many Americans and Europeans, was abolished in a justified fight against unjust values.

    If we accept the fact that culture matters, we also have to concede that foreign culture should have a place in our society. This doesn’t mean, though, that people native to a country have to give up on their own values. Quite naturally, the burden of responsibility must rest on those who immigrate to a foreign culture. However, we shouldn’t expect that everyone is willing to assimilate entirely. And this is where the crux begins.

    The “great society”, not government is the solution

    Many bureaucrats think that seamless integration is simply a question of the right laws and forceful state mediation between two cultures. They assume that by designing sophisticated programs immigrants will necessarily start feeling as members of society. This is wrong, though. Hayek made clear that culture doesn’t work that way:

    “[…] the extended order resulted not from human design or intention but spontaneously: it arose from unintentionally conforming to certain traditional and largely moral practices, many of which men tend to dislike, whose significance they usually fail to understand, whose validity they cannot prove, and which have nonetheless fairly rapidly spread by means of an evolutionary selection – the comparative increase of population and wealth – of those groups that happened to follow them.”

    (F. A. Hayek, in: W. W. Bartley, III (ed.), The Fatal Conceit, Vol. 1 of The Collected Works of F. A. Hayek, Chicago 1988, 6)

    To put it in a nutshell, culture is omnipresent, it possesses a formative role in life like no other informal social institution. Cultural values are deeply embedded in social relations, parenting, education, and so forth, which is why we should never expect perfect assimilation from top-down integration programs, as sophisticated as they may be.

    However, the market, unlike any other institution, has the power to create peaceful cooperation among people of different cultures. It creates opportunities for those who are willing to integrate and to accept the traditions of the local population. Even more importantly, the market discourages people from thinking in entitlements. The culture of dependency, created by the welfare state, has not only made millions of individuals depending but has also evoked antipathy for foreigners and their diverse values with which they arrive at our borders. As Donald Trump’s presidential campaign platform impressively showed, once the state has created the feeling of being left behind, politics quickly becomes an outlet for racial slurs and cultural defamation.

    A government siding with one group of its population is highly problematic. In doing so, it does not only sow a lot of mistrust and resentment among those people with conflicting opinions but also conveys the belief that government is able to solve the problem, if necessary using force.

    What remains for us to do then?

    What then are the ideal conditions for the peaceful coexistence of people of a different cultural background? The German classical liberal economist and philosopher, Roland Baader, once said that there exists only one human right, the right to be let alone (“Das einzig wahre Menschenrecht ist das Recht, in Ruhe gelassen zu werden […]”). This is in fact how every human tribe started off before becoming part of a more involved society. Well, some groups, like the Amish people in the U.S. and Canada, believe in the fulfilled existence of remaining unaffected by unfamiliar values till this day.

    Oftentimes, however, foregoing the opportunities of cooperation will cost those people dear. In his book “Living Economics”, Peter Boettke shows that there exist myriad institutions that allow people to engage actively with each other, while living peacefully side by side. It is these “organic” institutions of self-governance that have proven themselves valuable throughout the world and that have supported people in coming together and starting exchanging not only goods but eventually ideas and their cultural heritage.

    However, to concede that culture matters, that of immigrants as much as ours, is the first step to recognize that peaceful community relies on everyone’s right to be let alone if he or she wishes to do so.

    In a very biological sense, the right to be let alone gives us the time needed to prepare ourselves for the world outside of our “cultural backyard”. It is true that we will always have to accept that some people are not willing to become part of a more heterogenous society. As I said, this is their very right. And sometimes, we’ll even have to defend the principles of an open society against violent aggressors. However, to concede that culture matters, that of immigrants as much as ours, is the first step to recognize that peaceful community relies on everyone’s right to be let alone if he or she wishes to do so.

    Published by The Libertarian Institute